“Das haben wir schon immer so gemacht” – ein Satz, der in der Entwicklungsabteilung von Polestar offensichtlich verboten ist. Wie sonst ließe sich der Polestar 4 erklären? Ein Auto, das mit einer hundertjährigen Konvention des Automobilbaus bricht und schlichtweg auf eine Heckscheibe verzichtet. Stattdessen blickt der Fahrer in einen hochauflösenden Bildschirm, der sein Bild von einer Kamera am Heck empfängt. Diese eine, mutige Entscheidung definiert den Charakter des gesamten Fahrzeugs und wirft die zentrale Frage auf: Ist das eine geniale Innovation, die Sicherheit und Design verbessert, oder ein Gimmick, das in der Praxis scheitert? Wir haben den Polestar 4 als Long Range Dual Motor im intensiven Alltagstest, um genau das herauszufinden.
Das kontroverse Herzstück: Wie lebt es sich ohne Heckscheibe?
Um es vorwegzunehmen: Es funktioniert erstaunlich gut – nach einer kurzen Eingewöhnungsphase. Die ersten paar Male, in denen man in den digitalen Rückspiegel blickt, muss sich das Gehirn daran gewöhnen, auf einen Bildschirm zu fokussieren anstatt auf ein Spiegelbild in der Ferne. Doch schon nach wenigen Fahrten weicht die Skepsis der Faszination für die Vorteile.
- Überlegene Sicht: Das digitale Bild ist brillant, scharf und bietet ein weitaus breiteres Sichtfeld als jeder konventionelle Spiegel. Köpfe von Fondpassagieren, hohe Beladung oder eine verschmutzte Heckscheibe gibt es als Sichthindernis nicht mehr.
- Perfekte Sicht bei Nacht und Regen: Wo ein normaler Spiegel nur von Scheinwerfern geblendet wird, liefert die HDR-Kamera ein klares, helles und blendfreies Bild der Verkehrssituation. Auch bei starkem Regen bleibt die hoch am Heck positionierte Kamera dank des aerodynamischen Designs erstaunlich sauber.
Der Ingenieur-Kompromiss: Man gewinnt eine überlegene, wetterunabhängige Sicht nach hinten und ermöglicht den Fondpassagieren durch das durchgehende Panoramadach ein einzigartiges Raumgefühl. Man opfert dafür aber die intuitive, über Jahrzehnte gelernte Fähigkeit, durch leichte Kopfbewegungen den Blickwinkel im Spiegel zu ändern, und muss sich auf die Technik verlassen. Bei einem extrem seltenen Ausfall des Systems kann der Spiegel zwar in einen normalen, reflektierenden Modus geschaltet werden, zeigt dann aber nur die Rückbank.
Performance und Fahrdynamik: Schwedischer Sportler mit 544 PS
Der Polestar 4 ist als sportliche Alternative zum Tesla Model Y positioniert, und das merkt man ihm an. Besonders die von uns getestete Dual-Motor-Version mit 400 kW (544 PS) Systemleistung ist eine echte Ansage. Der Sprint von 0 auf 100 km/h in 3,8 Sekunden ist brutal und wird von einem straffen, aber dennoch komfortablen Fahrwerk begleitet. Das Fahrverhalten ist präzise, die Lenkung direkt, und die Wankneigung in Kurven bleibt minimal. Er fühlt sich nicht ganz so spitz und agil an wie ein Porsche Macan EV, bietet aber eine exzellente Balance aus Sportlichkeit für die Landstraße und Komfort für die Langstrecke.
Reichweite und Laden: Solide Oberklasse-Werte
Mit seinem großen 94-kWh-Akku (netto nutzbar) ist der Polestar 4 für die Langstrecke bestens gerüstet. Der WLTP-Wert von bis zu 620 km für die Single-Motor-Variante ist vielversprechend.
| Technische Daten | Long Range Single Motor | Long Range Dual Motor |
| Akkukapazität (netto) | 94 kWh | 94 kWh |
| Max. Ladeleistung (DC) | 200 kW | 200 kW |
| Ladezeit 10-80% (DC) | ca. 30 min | ca. 30 min |
| Reichweite (WLTP) | bis 620 km | bis 590 km |
| Leistung | 200 kW / 272 PS | 400 kW / 544 PS |
| 0-100 km/h | 7,1 s | 3,8 s |
In unserem Test mit dem Dual-Motor-Modell erzielten wir einen realistischen Durchschnittsverbrauch von etwa 20,5 kWh/100 km. Das resultiert in einer sehr soliden Realreichweite von circa 450 bis 470 Kilometern bei gemischter Fahrweise. Auf der Autobahn bei konstant 130 km/h sollte man mit rund 360 bis 380 Kilometern kalkulieren.
Die maximale Ladeleistung von 200 kW ist gut, aber nicht mehr führend im Segment. Konkurrenten mit 800-Volt-Architektur sind hier teilweise schneller. Dennoch ist der Ladevorgang von 10 auf 80 Prozent in rund 30 Minuten erledigt, was absolut praxistauglich ist. Die Batterievorkonditionierung über die Google-Maps-Navigation funktioniert zuverlässig.
Interieur: Skandinavische Kühle trifft auf Google
Der Innenraum ist eine Stärke des Polestar 4. Er wirkt hochwertiger und besser verarbeitet als der seines Hauptkonkurrenten Tesla Model Y. Die Materialien sind nachhaltig, das Design ist minimalistisch, aber nicht karg. Der große, zentrale 15,4-Zoll-Touchscreen mit dem Android Automotive Betriebssystem ist schnell, logisch aufgebaut und dank der integrierten Google-Dienste (Maps, Assistant) eine der besten Infotainment-Lösungen auf dem Markt.
Tipp von Alex Wind: Der digitale Rückspiegel ist mehr als nur eine Kamera. Wenn Sie den Blinker setzen, schwenkt das Bild im Spiegel leicht zur Seite, um den toten Winkel auf dieser Fahrzeugseite besser auszuleuchten. Es ist ein kleines, aber extrem cleveres Detail, das die Sicherheit beim Spurwechsel erhöht und zeigt, wie durchdacht das System ist.
Fazit: Eine mutige und überzeugende Alternative zum Mainstream
Der Polestar 4 ist ein beeindruckendes Auto. Die anfängliche Skepsis gegenüber der fehlenden Heckscheibe verfliegt schnell und macht der Erkenntnis Platz, dass der digitale Spiegel in den meisten Situationen tatsächlich die bessere, sicherere Lösung ist.
Er positioniert sich als starke Alternative für all jene, denen ein Tesla Model Y zu omnipräsent und im Innenraum zu nüchtern ist. Der Polestar 4 kontert mit einem atemberaubenden, einzigartigen Design, einer spürbar höheren Material- und Verarbeitungsqualität und einem exzellent ausbalancierten Fahrwerk. Er ist der Beweis, dass mutige Design-Entscheidungen, wenn sie technologisch sauber umgesetzt werden, zu einem überlegenen Produkt führen können. Er ist nicht nur anders – er ist in vielerlei Hinsicht besser.



























