“Simplify, then add lightness” – “Vereinfache, dann füge Leichtigkeit hinzu.” Dieses Mantra von Firmengründer Colin Chapman war über 70 Jahre lang das unumstößliche Gesetz bei Lotus. Das Ergebnis waren einige der puristischsten und agilsten Sportwagen der Welt. Und nun das: der Lotus Eletre. Ein über fünf Meter langes, fast 2,5 Tonnen schweres Luxus-SUV mit Elektroantrieb. Ein “Hyper-SUV”, das in jeder Hinsicht das exakte Gegenteil der Lotus-DNA zu sein scheint. Ist dies der endgültige Verrat an den Markenwerten oder ein genialer Schachzug, um die legendäre britische Marke in die elektrische Zukunft zu katapultieren? Wir haben das Topmodell Eletre R mit 905 PS im Test, um die vielleicht wichtigste Frage zu klären: Steckt in diesem Giganten noch ein Funke der Lotus-Seele?
Die brachiale Gewalt: Ein Hyper-SUV im “Zwei-Sekunden-Club”
Die schieren Zahlen des Eletre R sind kaum zu fassen. Zwei Elektromotoren produzieren eine Systemleistung von 675 kW (905 PS) und ein Drehmoment von 985 Nm. Damit katapultiert sich das SUV in weniger als 3 Sekunden von 0 auf 100 km/h und gehört damit zum exklusiven “Zwei-Sekunden-Club”. Anders als viele E-Autos verfügt der Eletre R an der Hinterachse über ein Zweigang-Getriebe, was ihm auch bei hohen Geschwindigkeiten eine immense Durchzugskraft verleiht. Die Beschleunigung ist nicht nur brutal, sondern auch surreal leise und wird von einer stoischen Ruhe der Karosserie begleitet.
Kann er wirklich fahren? Die Analyse der Fahrdynamik
Eine gerade Linie schnell zu fahren, ist für ein starkes E-Auto einfach. Die wahre Lotus-Magie lag aber immer in der Kurve. Um einem 2,5-Tonnen-SUV das Tanzen beizubringen, hat Lotus alle Register der modernen Fahrwerkstechnik gezogen:
- Aktive Luftfederung und adaptive Dämpfer
- Aktive Wankstabilisierung, die Karosserieneigungen in Kurven fast vollständig eliminiert.
- Hinterachslenkung, die die Agilität bei niedrigem Tempo erhöht und die Stabilität bei hohem Tempo verbessert.
- Torque Vectoring durch Bremseingriffe.
Das Ergebnis ist verblüffend. Der Eletre lenkt für ein Auto dieser Größe unglaublich direkt und präzise ein. Er bleibt in Kurven fast unwirklich flach und neutral und kaschiert seine Masse auf eine Weise, die an den Porsche Cayenne Turbo GT erinnert, den bisherigen König dieser Disziplin. Man kann ihn mit einer Präzision auf der Straße platzieren, die man einem so großen Fahrzeug niemals zutrauen würde. Ja, man spürt das Gewicht, aber man kämpft nie dagegen an. Es ist keine leichtfüßige Elise, aber es ist zweifellos das dynamischste und fahrerisch ansprechendste E-SUV auf dem Markt.
Die technische Basis: 800 Volt, LiDAR und maximale Konnektivität
Der Eletre basiert auf der neuen “Electric Premium Architecture” (EPA) von Lotus und nutzt eine 800-Volt-Architektur. Der riesige Akku mit 112 kWh Kapazität (brutto) verspricht eine WLTP-Reichweite von bis zu 600 km für die Basisversion und 490 km für den Eletre R.
| Technische Daten | Eletre S | Eletre R |
| Akkukapazität (brutto) | 112 kWh | 112 kWh |
| Max. Ladeleistung (DC) | ca. 350 kW | ca. 350 kW |
| Ladezeit 10-80% (DC) | ca. 20 min | ca. 20 min |
| Reichweite (WLTP) | bis 600 km | bis 490 km |
| Leistung | 450 kW / 603 PS | 675 kW / 905 PS |
| 0-100 km/h | 4,5 s | 2,95 s |
| Preis (ab ca.) | 120.990 € | 150.990 € |
In der Praxis muss man beim Eletre R mit einer realistischen Alltagsreichweite von ca. 400 Kilometern rechnen. Bei sportlicher Fahrweise sinkt dieser Wert schnell. Doch die Stärke liegt im Laden: An einer 350-kW-HPC-Säule kann der Akku in nur 20 Minuten von 10 auf 80 Prozent geladen werden.
Technologisch ist der Eletre zudem für die Zukunft gerüstet. Er ist eines der ersten Serienautos der Welt mit ausfahrbaren LiDAR-Sensoren, die eine präzise 3D-Karte der Umgebung erstellen und die Grundlage für hochautomatisiertes Fahren (Level 4) legen.
Tipp von Alex Wind: Der Eletre verfügt über ein extrem fortschrittliches aktives Aerodynamik-Paket. Der Frontgrill kann sich öffnen und schließen (“atmen”), um entweder den Luftwiderstand zu senken oder die Kühlung zu maximieren. Der aktive Heckspoiler fährt je nach Geschwindigkeit in drei verschiedene Positionen, um den Anpressdruck zu erhöhen. Das ist pure Supersportwagen-Technik in einem SUV.
Fazit: Die Wiedergeburt einer Marke, aber nicht für Puristen
Der Lotus Eletre ist ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit und gleichzeitig die Rettung für die Zukunft der Marke. Er opfert die alte Religion der Leichtigkeit auf dem Altar der modernen Elektromobilität und des SUV-Trends.
Der Ingenieur-Kompromiss ist unübersehbar: Man erhält ein Auto, das die Fahrleistungen eines Supersportwagens und den Luxus einer Oberklasse-Limousine bietet, aber man muss akzeptieren, dass dies nichts mehr mit dem puristischen, analogen Fahrgefühl eines klassischen Lotus zu tun hat.
Ist also noch die Seele von Lotus in ihm? Ja, aber sie hat sich weiterentwickelt. Sie steckt nicht mehr im geringen Gewicht, sondern im Streben nach der absolut bestmöglichen Fahrdynamik, die innerhalb der physikalischen Grenzen eines E-SUV machbar ist. Der Eletre ist kein traditioneller Lotus, aber er ist ein herausragendes Stück Ingenieurskunst und zweifellos der neue fahrdynamische König unter den elektrischen Hyper-SUVs. Er ist das Auto, das Lotus bauen musste, um zu überleben – und sie haben es eindrucksvoll gut gemacht.
































