Radnabenmotoren: Die Revolution für Fahrdynamik und Design?

Seit über einem Jahrhundert folgt der Automobilbau einem simplen Prinzip: Ein zentraler Motor schickt seine Kraft über Wellen und Getriebe an die Räder. Die Elektromobilität hat dieses Konzept im Kern beibehalten, den Verbrenner lediglich durch einen oder zwei zentrale E-Motoren ersetzt. Doch eine alte, radikale Idee, die bereits Ferdinand Porsche im Jahr 1900 faszinierte, erlebt eine Renaissance: der Radnabenmotor. Das Konzept, den Antrieb direkt ins Rad zu verlegen, verspricht eine Revolution in Sachen Fahrdynamik, Effizienz und Designfreiheit. Aber warum hat sich diese scheinbar geniale Technologie noch nicht durchgesetzt? Wir analysieren die enormen Vorteile und die ebenso großen physikalischen Hürden.

Das Konzept: Was ist ein Radnabenmotor?

Beim Radnabenmotor wird der komplette elektrische Antrieb – Motor, oft auch Leistungselektronik und Teile des Getriebes – zu einer kompakten Einheit zusammengefasst, die direkt in der Felge des Rades sitzt. Statt eines großen Zentralmotors, der seine Kraft über Antriebswellen verteilen muss, hat das Auto bis zu vier kleinere, dezentrale Motoren, von denen jeder ein einzelnes Rad antreibt. Dieser Wegfall der gesamten mechanischen Kraftübertragung ist der Schlüssel zu den faszinierenden Vorteilen des Konzepts.

Die (fast) grenzenlosen Vorteile

Vorteil 1: Perfektes Torque Vectoring – die Physik neu gedacht

Dies ist der größte fahrdynamische Vorteil. Mit vier unabhängig voneinander steuerbaren Motoren kann die Antriebs- und Bremskraft an jedem Rad in Millisekunden präzise dosiert werden. Das ermöglicht ein Maß an Agilität und Fahrsicherheit, das mit einem zentralen Motor und mechanischen Differenzialen unerreichbar ist. Ein solches Fahrzeug kann Unter- oder Übersteuern aktiv im Ansatz ersticken, sich förmlich in die Kurve hineinziehen und theoretisch sogar auf der Stelle drehen (eine sogenannte “Panzer-Wende”).

Vorteil 2: Die Befreiung der Designer

Durch den Wegfall der zentralen Motoren, des Getriebetunnels und der Antriebswellen werden die Designer von den Fesseln der klassischen Fahrzeugarchitektur befreit. Der gesamte Raum zwischen den Achsen wird frei für die Batterie und die Insassen. Das ermöglicht völlig neue Fahrzeugkonzepte mit:

  • Komplett flachen Innenraumböden und maximalem Platzangebot.
  • Größeren Kofferräumen vorne (“Frunk”) und hinten.
  • Radikal neuen Karosserieformen, da keine Rücksicht mehr auf einen “Motorraum” genommen werden muss.

Vorteil 3: Höhere Effizienz

Ein Getriebe, ein Differenzial und Antriebswellen erzeugen Reibung und damit Energieverluste. Da der Radnabenmotor die Kraft direkt am Rad erzeugt, entfallen diese Übertragungsverluste, was die Gesamteffizienz des Antriebsstrangs um einige Prozentpunkte verbessern kann.

Die größte Hürde: Das Problem der “ungefederten Masse”

Wenn die Vorteile so überwältigend sind, warum fahren wir nicht alle längst mit Radnabenmotoren? Die Antwort liegt in einem physikalischen Problem, das Ingenieure seit Jahrzehnten herausfordert: die Erhöhung der ungefederten Masse.

Als “ungefederte Masse” bezeichnet man alle Bauteile eines Autos, die sich zwischen der Straße und der Fahrzeugfederung befinden – also primär Rad, Reifen, Bremse und Teile der Radaufhängung. Alles andere (Karosserie, Insassen, Batterie) gehört zur “gefederten Masse”. Je leichter die ungefederten Massen sind, desto besser kann das Rad den Unebenheiten der Straße folgen und desto komfortabler und sicherer ist das Fahrverhalten.

Ein Radnabenmotor fügt dem Rad zusätzliche 20 bis 35 kg hinzu. Dieses schwere Rad ist für die Stoßdämpfer viel träger und schwieriger zu kontrollieren. Es neigt dazu, auf Bodenwellen zu “stempeln” und den Kontakt zur Straße zu verlieren, anstatt sauber abzurollen. Das Ergebnis kann ein unkomfortables, polterndes Fahrverhalten und eine schlechtere Straßenlage auf unebener Fahrbahn sein.

Tipp von Alex Wind: Stellen Sie sich vor, Sie joggen einmal in leichten Laufschuhen und einmal in schweren Stahlkappenstiefeln. Mit den leichten Schuhen können Sie Ihre Füße schnell an den Untergrund anpassen. Mit den schweren Stiefeln trampeln Sie hart auf und jeder Schritt ist träge. Genau vor diesem Problem steht die Federung bei einem hohen ungefederten Gewicht.

Weitere Herausforderungen: Haltbarkeit und Kosten

Neben der ungefederten Masse gibt es weitere Hürden:

  • Robustheit: Der Motor im Rad ist permanent Spritzwasser, Salz, Staub und harten Schlägen von Schlaglöchern ausgesetzt. Ihn zuverlässig abzudichten und langlebig zu machen, ist extrem aufwendig.
  • Kühlung: Die Abwärme des Motors und die Hitze der direkt daneben liegenden Bremse müssen effektiv abgeführt werden, was auf engstem Raum eine Herausforderung ist.
  • Kosten und Komplexität: Vier hochintegrierte Spezialmotoren inklusive Steuerung und Kühlung sind in der Summe oft teurer als ein oder zwei simple Zentralmotoren.

Fazit: Genialer Traum mit harten physikalischen Realitäten

Der Radnabenmotor ist keine Spinnerei, sondern ein technologisch faszinierendes Konzept mit dem Potenzial, die Art, wie Autos fahren und aussehen, zu revolutionieren. Unternehmen wie Elaphe, Protean Electric und das deutsche Startup DeepDrive arbeiten mit Hochdruck daran, die Nachteile zu minimieren, und erzielen dabei beeindruckende Fortschritte.

Der Ingenieur-Kompromiss ist jedoch fundamental: Man erkauft sich die unschlagbaren Vorteile bei Fahrdynamik und Packaging mit den ebenso großen Nachteilen bei Fahrkomfort und Robustheit. Solange das Problem der ungefederten Masse nicht überzeugend gelöst ist, wird der Radnabenmotor wahrscheinlich vorerst eine Technologie für spezielle Nischenanwendungen (wie autonome Shuttles, Spezialfahrzeuge oder Supersportwagen) bleiben.

Für den Massenmarkt ist der Zentralmotor auf absehbare Zeit der effizientere, robustere und kostengünstigere Kompromiss. Die Revolution im Rad wird noch etwas auf sich warten lassen.

Author: Alex Wind
Alex Wind ist Gründer von Voltfokus.de und Chefredakteur des Mediennetzwerks, zu dem auch HH-AUTO gehört. Als studierter Fahrzeugtechniker (FH Esslingen) mit Spezialisierung auf alternative Antriebe und Batterietechnologie bringt er über 10 Jahre Branchenerfahrung in seine Analysen ein. Bei Voltfokus.de teilt er seine Expertise in fundierten Tests, Ratgebern und technischen Berichten rund um die Elektromobilität.